Tankstelle Kaiserstraße

Einmal auftanken, bitte

 

Die Geschichte der Tankstelle ist eng mit der Entwicklung der Automobilkultur und der modernen Konsumgesellschaft verbunden. So hat sie im Laufe der Zeit nicht nur eine praktische Funktion als Ort der Treibstoffversorgung erfüllt, sondern auch eine vielschichtige kulturelle Bedeutung erlangt. Vorläufer der Tankstelle waren sogenannte Bürgersteigpumpen, die ab 1923 ihren Betrieb aufnahmen. Diese auf dem Bürgersteig stehenden Zapfsäulen hatten einen unterirdischen Vorratstank, waren
preiswert und breiteten sich daher schnell aus. Parallel dazu entstanden ab 1927 die ersten sogenannten Großtankstellen in Deutschland.

Während der wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre und später während des Zweiten Weltkriegs wurden Tankstellen zu Orten, an denen auf die Versorgungsknappheit mit Rationierungen des Sprits
reagiert wurde. In dieser Zeit gründete der Oldenburger August Pickel 1932 seine erste Tankstelle auf dem Areal des elterlichen Betriebs in der Rosenstraße. Nach drei Jahren wurde der Betrieb wegen des allgemein steigenden Verkehrsaufkommens in die Gottorpstraße verlegt.

Blütezeit der Tankstelle

Nach dem zweiten Weltkrieg endete die Zeit der Bürgersteigpumpen, da die Ölgesellschaften sich bei ihren Großtankstellen stärker auf Service und Wagenpflege konzentrierten. Bei Neubauten wurden
Wasch- und Pflegehallen fortan immer mitgeplant. Die Standardisierung der Tankstellen galt als effizient und sollte auch die Treibstoffkosten für Kund:innen und Kunden senken. Ein immer gleiches Erscheinungsbild mit hohem Wiedererkennungswert war daher das Ziel der Ölgesellschaften.

In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die Tankstelle ihre Blütezeit. Mit dem Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg und der zunehmenden Verbreitung von Autos entwickelte sich die Tankstelle auch zu einem sozialen Treffpunkt. Nicht nur zum Tanken angesteuert, wurde sie auch als Rastplatz für Reisende und Ort gesellschaftlichen Austauschs genutzt. Besonders viele Tankstellen sind in Oldenburg in den 1950er Jahren entstanden, doch nicht alle haben bis heute überdauert. Einige Spuren ehemaliger Tankstellen können jedoch noch heute entdeckt werden, beispielsweise am Damm, an der Edewechter Landstraße in Eversten oder in der Kaiserstraße.

1955 gründete die Firma Pickel die Tankstelle auf der Ecke Kaiserstraße. Sie verfügt interessanterweise nicht über eine Hausnummer, sondern ist unter der Adresse Ecke Kaiserstraße/Bleicherstraße eingetragen. 1956 wurde die Firma August Pickel Teil der AVIA International Vereinigung und verwendet die Marke AVIA auch in der Kaiserstraße. Die AVIA International ist eine aus der Schweiz stammende Vereinigung unabhängiger Mineralölimporteure, der mittlerweile etwa 3.100 Tankstellen in
15 europäischen Ländern angehören.

Erscheinungsbild der Tankstelle

Zur Gründungszeit stand neben dem Waschhallengebäude nur ein kleines Kassenhäuschen, in dem später die Autovermietung stattfand. Anstelle des heutigen Verkaufsraums wurden anfänglich unter freiem Himmel Autos repariert. Architektonisch besonders auffällig waren zu der Zeit ausladende Dächer. Damit nahmen sie viel umfassenderen Raum ein als eine Zapfsäule mit kleinem Kassenhaus. So konnte die Tankstelle auch von weitem erkannt werden. Außerdem wurden Tankstellen ab den 1950er Jahren nachts eindrucksvoll beleuchtet und in Szene gesetzt, um die Sichtbarkeit noch zu steigern.

Das Erscheinungsbild von Tankstellen entwickelte sich in den Jahren kontinuierlich weiter, ähnlich den beinahe jährlich wechselnden Automodellen in der Fahrzeugindustrie. Es gab fortlaufende Veränderungen in Bezug auf Farben, Dachkonstruktionen, Beleuchtung, Einführung neuer Technologien und erweiterte Serviceangebote wie der Verkauf von Straßenkarten. Diese Anpassungen spiegelten auch den zeitgenössischen Geschmack der 1950er Jahre in Design und Architektur wider, beispielsweise durch den Einsatz von Bogenformen, die das zur Ikone stilisierte Flugdach mit seinen abgerundeten Ecken hervorbrachte.

Im Zuge der Ölkrise 1973 wurde der riesige Wachstumsmarkt Tankstelle gedämpft. Die Ölgesellschaften verkleinerten das Tankstellen-Netz, um den Umsatz einzelner Tankstellen zu erhöhen. Die Anzahl der Tankstellen verringerte sich deutschlandweit von 47.000 im Jahr 1969 auf 26.000 im Jahr 1970. Auch die Tankstellenarchitektur wandelte sich in den 1970er Jahren. Auffällige Dachkonstruktionen waren nicht mehr modern, sondern immer größer werdende, blockförmige Tankstellen mit Flachdächern.

Bedeutung der Tankstelle im „Kaiserkiez“

Ab 1964 erweiterten Tankstellen ihr Sortiment um Produkte des täglichen Bedarfs. Nun wurde nicht nur Treibstoff, sondern auch Zigaretten, Snacks und Getränke verkauft. Damit erfüllten Tankstellen in Städten für Anwohnende auch eine Versorgungsfunktion und wurden zwangsläufig zu Treffpunkten. Auch in der alten AVIA-Tankstelle in der Kaiserstraße fand mehr statt, als Autos zu tanken, zu waschen und zu mieten. Davon berichtet ein ehemaliger Pächter im Gespräch mit dem heutigen Mieter Frank Glanert.
Frank erinnert sich: „Der Pächter Horst erzählte, in der Tankstelle seien alle irgendwann und irgendwie vorbeigekommen. Sei es zum Tanken oder Zigaretten kaufen, weil sie einen Mietwagen brauchten oder eine Kleinigkeit zu essen. Die Tankstelle war der heimliche Mittelpunkt des Viertels. Sie befand sich mitten auf dem Präsentierteller auf der Ecke der Kaiserstraße, zwischen Erotik-Shop, Pornokino, Straßenstrich, Gewerkschaftsgebäude, Versicherungen, einem Motorrad-Club, der Kulturetage und der Staatsanwaltschaft.“

Horst assoziiert die meisten Kund:innen mit ihren Autos, aber hat sich auch viele Geschichten und Anekdoten zu den Personen gemerkt. Da war zum Beispiel die ewige Studentin mit dem Peugeot 205 Cabrio, dessen Dach schon oft notdürftig mit Klebeband geflickt wurde und die sich just am Prüfungstag unfreiwillig in der Wohnung einsperrte, so dass man die Tür eintreten musste, um sie zu befreien. Bestanden hat sie trotzdem nicht. „Den VW T3-Pritsche von der Kulturetage sehe ich heute noch, der läuft immer noch“, erzählt Horst. Dann die Familienmitglieder eines Geschäftsführers, die alle BMW fuhren und auf die Karte des Mannes tankten. „Zwei Töchter mit Z4 und die Frau hat nie selbst getankt, sondern wartete immer, bis sie bedient wurde.“ Der Zivi, der mit dem Seat Arosa immer ganz eilig zur Barmer musste, um etwas einzuwerfen und den Weg mit quietschenden Reifen über das Tankstellengelände abkürzte. „Bis ihn einmal ein zufällig auf dem Boden liegendes Kantholz bremste und er fortan an dieser Ecke vorsichtig fuhr.“

Der Tankstelle ein Denkmal?

2018 stellte die Tankstelle ihren Betrieb ein und das Grundstück wurde an einen Investor verkauft. Dieser plante auf dem circa 300 Quadratmeter großen Grundstück Wohnungen in einem mehrstöckigen Gebäude. Auch wenn die Tankstelle mittlerweile fast 65 Jahre alt ist, steht sie nicht unter Denkmalschutz. Das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege hat 2013 eine Unterschutzstellung abgelehnt. Somit ist die Tankstelle laut der Unteren Denkmalbehörde Oldenburgs ein sogenanntes Nichtdenkmal, weil sie auf Merkmale des Denkmalschutzes geprüft, aber kein Denkmalwert festgestellt wurde. Für den Erhalt des gesamten Gebäudes wurde jedoch eine Translokation, eine Verlagerung an andere Stelle, ins Museumsdorf Cloppenburg diskutiert. Nach aktuellen Plänen des Investors soll wenigstens das historische Flugdach in den Neubau integriert werden.

 

Filmset, Pop-up-Restaurant und "Tanzstelle"

Die Tankstelle wurde während des Betriebs und darüber hinaus auch ganz anders genutzt. Ein Beispiel stellt das Musikvideo der Oldenburg Band „The Peers“ aus dem Jahr 2007 dar, für das die Tankstelle zum Filmset wurde:

 

Im März 2020 wurde die Tankstelle zum Pop-up-Restaurant. „Die Geschmacksträger“, bisher unterwegs mit einem Foodtruck, verwandelten die Räume der ehemaligen Tankstelle in einen Restaurantbetrieb. 2022/23 eröffneten sie das Restaurant „Kaiserküche“ in der Kaiserstraße 18-20 unweit der Tankstelle.

Etwa eineinhalb Jahre später wird die Tankstelle zur „Tanzstelle“. Das Oldenburger Theaterkollektiv „Die Loge“ verwandelte den Ort für vier Tage in eine interaktive Kunstinstallation mit bunten Lichtern, DJs und der Fragestellung: „Wie fühlt sich das Tanzen an; solo und unbeobachtet? Wird es eine Überwindung der eigenen Verlegenheit oder völliger Exzess?“

Frankys

Seit Ende 2023 ist die Tankstelle wieder für ein Jahr vermietet. Fahrradenthusiast Frank Glanert hat dort Mitte Februar „Frankys“ eröffnet. Seither dreht sich an der Ecke Kaiserstraße/Bleicherstraße alles um das Thema Fahrrad. Das Konzept ist eine Mischung aus Begegnungs- und Veranstaltungsort, Pop-up-Store, Fahrradcafé und Fahrradwerkstatt. Geplant sind unter anderem Konzerte, Vorträge, Radtouren und Fahrradflohmärkte.

Die für alle offene Fahrradwerkstatt „Radstelle“ in der alten Waschhalle und der Pop-up-Store „Cyclepunks“, der Fahrradbekleidung verkauft, lassen an die Zeiten zurückerinnern, an dem die Tankstelle zugleich für Mobilität und Konsumgeschichte stand.

Über Veranstaltungen und Öffnungszeiten können Interessierte sich unter folgendem Link informieren: https://frankys.blog/events/

 

Text: Stephan Lantow