Bundesbahnweg

Bahn frei für die Kunst

 

Vieles änderte sich in Oldenburg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Stadt wuchs aufgrund vieler Schutzsuchender aus verschiedenen Ländern in kurzer Zeit stark an und musste in der Folge mit den neuen Begebenheiten umgehen. Mehr Menschen in der Stadt bedeuteten auch mehr Autos auf den Straßen, sodass die ehemals kleine Stadt an der Hunte in der Nachkriegszeit neue Wege zur Bewältigung des Verkehrs schaffen musste. Wo früher an der Südseite des Pferdemarkts eine ebenerdige Bahntrasse kreuzte und große Bäume den beinah idyllisch anmutenden Zugang zur Innenstadt säumten, wurde Mitte der 1960er Jahre Platz für Verkehr und Parkflächen gemacht. Urige Orte wie das Eiscafé Chiamulera mussten den umfassenden Umbaumaßnahmen zur Kanalisierung des erhöhten Verkehrsaufkommens weichen.

Die Bahnhochlegung am Pferdemarkt mitsamt des Neubaus des Verkehrskreisels und der mehrspurigen Straße „Am Stadtmuseum“ schuf reichlich Parkplatzflächen unterhalb der Bahnbrücke und in Richtung Hauptbahnhof auch viele Quadratmeter Wandfläche. Entlang des „Bundesbahnwegs“ entstand durch die Errichtung der etwa 280 Meter langen Seitenwände der hochgelegten Bahntrasse eine Wandfläche von über 1100 Quadratmetern mit überwiegend 4 Metern Höhe. Nach etwa 10 Jahren kahler Betonwände gestaltete der Bremer Künstler Hans Wilhelm Sotrop mit seinem mehrteiligen Werk einen Teil der Wandfläche. Im Rahmen eines Symposiums für Kunst im öffentlichen Raum im Jahr 1977 hatte das Kulturdezernat der Stadt Oldenburg das Ziel ausgerufen: „Die Bürger sollen miterleben können, wie Kunst entsteht“ (Nordwest- Zeitung, 11.06.1977). Sotrop malte mehrere Landschaftsmotive seiner Bildfolge „Eine kleine Reise“ mit Acrylfarben in der Größe von 3 x 4 Meter an die Betonmauer. Weitere Künstler widmeten sich den Stützpfeilern der Bahnbrücke an der Heiligengeiststraße.

Nach dieser einmaligen Kunstaktion entlang der hochgelegten Bahn, wurde die hunderte Meter lange Wand sich selbst überlassen und erhielt mit dem Aufkommen von Graffiti-Kunst in den 1980er Jahren das ein oder andere illegale Wandbild. Seit der künstlerischen Nutzung durch Hans Wilhelm Sotrop sollten gut 45 Jahre vergehen, bis die Wände des Bundesbahnwegs im neuen Glanz erstrahlen konnten. Im Spätsommer 2022 entstand auf Initiative des Vereins Institut für Verknüpfung e.V. eine neue und umfassende Gestaltung der Wandfläche: In Kooperation mit dem Präventionsrat Oldenburg e.V. und dem Stadtmuseum Oldenburg  fand ein dreitägiges Urban Art Festival statt, das die Mauer zu einer „Freiluft-Ausstellung“ werden ließ. Es trug den Titel „Memur“, eine Kombination aus memorial (dt. Denkmal) und mural (dt. Wandgemälde). Internationale Künstler:innen widmeten sich den Erlebnissen und Eindrücken der vergangenen Jahre wie zum Beispiel der Pandemie, Krieg, Konflikte sowie weiteren gesellschaftlichen und politischen Spannungsfeldern. Der gemeinsame Nenner der Kunstwerke war somit das Erleben und Reflektieren der kollektiven Erinnerung. Auf der Gegenseite wurde die Wand in Richtung des ehemaligen Ringlokschuppens zeitgleich zur „Wall of Fame“ – hier wurden zahlreiche ‚klassische‘ Graffitis von Sprayer:innen aus Oldenburg und der Region verwirklicht.

In der zweiten Augustwoche des Jahres 2022 wurde damit erneut das Ziel des damaligen Symposiums erreicht, als die Künstler:innen damit begannen, die Wände nach ihren Vorstellungen zu gestalten und damit die Entstehung von Kunst für die Bürger:innen live erlebbar wurde.

Text: Claudius Mertins