Bahlsen-Fabrik

Ein Dorf in der Stadt

 

2023 jährte sich die Gründung der „Brokat-Bäcerei“ zum 140. Mal. Die moderne Dampfbäckerei, bei der der Ofen nicht mehr mit Feuer, sondern mit Dampf erhitzt wurde, befand sich am Langenweg 13, heute Stedinger Straße 30/34. Bäckermeister Friedrich Brokat und seine Ehefrau Anna, geb. Tönjes, produzierten hier seit 1883 Brot- und Backwaren. Das Unternehmen entwickelte sich zu einem gutgehenden Betrieb. Allerdings erschwerte die Lebensmittelrationierung während des 1. Weltkrieges das Geschäft, weil die Kund:innen nur eine begrenzte Menge einkaufen durften. Der Einkauf wurde über sogenannte Lebensmittelkarten, in diesem Fall Brotkarten kontrolliert. Nach dieser schwierigen wirtschaftlichen Zeit übernahmen die Söhne Magnus Heinrich und Carl Hinrich das Geschäft und ließen es unter dem Namen M. & C. Brokat ins Handelsregister eintragen.

Das 50-jährige Bestehen der Firma im Jahr 1933 nahm die Zeitung „Nachrichten für Stadt und Land“ zum Anlass, einen Artikel über das Unternehmen zu schreiben. Darin wurde dem Unternehmen eine erfolgreiche Entwicklung und überregionale Bedeutung bescheinigt, da die Waren aufgrund ihrer hohen Qualität nicht nur in ganz Deutschland vertrieben wurden, sondern das sogenannte „Brokatbrot“ sogar bis nach Amerika exportiert wurde. Erste Verkaufsfilialen wurden nach der Eingemeindung Osternburgs in Oldenburg (1922) gegründet. So betrieben die Gebrüder Brokat ab 1930 eine Filiale der Dampfbäckerei in der Lange Straße 84 und ab den 1940er Jahren in der Gaststraße 17. Ein Neubau am Produktionsstandort in der Stedinger Straße wurde 1938 errichtet und andere Produktionsgebäude ausgebaut.

Beide Brokat-Brüder waren während des Nationalsozialismus Mitglieder der NSDAP und nahmen mit ihrer Bäckerei an den "Leistungskämpfen der Deutschen Arbeitsfront" (DAF) teil, bei denen Betriebe das sogenannte "Gaudiplom" erwerben konnten. Bei der Kundgebung zum vierten Leistungskampf der DAF in der Bremer Glocke 1941 erhielt die Brotfabrik als einer von 14 Oldenburger Betrieben eine „lobende Anerkennung“ von Gauleiter Röver. Wie viele andere Oldenburger Industriebetriebe beschäftigte die Bäckerei mindestens drei zivile Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Ukraine und eine unbekannte Anzahl von Bäckern aus den besetzten Niederlanden. Im Rahmen der Entnazifizierungsuntersuchungen wurden die Brüder als „Unterstützer“ des nationalsozialistischen Regimes eingestuft.

Nach dem Krieg konnten die Brokats den Betrieb weiterführen. Sie bauten den Produktionsstandort aus und spezialisierten sich ab 1958 auf die Herstellung von Fertigkuchen. Dabei entwickelten sie mit Hilfe neuester Fertigungsmethoden ein Verfahren zum Frischhalten der Backwaren. Damit bildeten sie die Grundlage für die Massenproduktion von Fertigkuchen und deren deutschlandweiten Verkauf in Selbstbedienungsläden. In ihrem erfolgreichsten Jahr verkaufte das Unternehmen 1962 insgesamt 20 Millionen Fertigkuchen. Bald nannte man die Firma nur noch Kuchenfabrik Brokat und den Juniorchef, Friedrich Carl Brokat, in Fachkreisen den „Kuchenkönig“.

Wenige Jahre nach den größten Erfolgen zwang eine Insolvenz, über deren Ursachen nichts Genaueres bekannt ist, Friedrich Brokat dazu, das Unternehmen 1966 zu verkaufen. Käufer wurde die Hannoversche Firma Bahlsen, die mit ihrem „Leibniz-Cake“ (heute: Leibniz Butterkeks) schon 1893 und 1900 auf den Weltausstellungen in Chicago und Paris weltweite Bekanntheit erlangte. Mit dem Kauf von Brokat stieg Bahlsen in das Kuchengeschäft ein. Das Firmenareal betrug inzwischen 1,1 Hektar und erstreckte sich weiträumig auf dem Areal zwischen der Stedinger Straße und der Alteneschstraße.

2004 wurde das Oldenburger Werk geschlossen, weil die Kuchenproduktion schon im darauffolgenden Jahr in das Zweigwerk Varel verlegt werden sollte. Am Standort des ehemaligen Unternehmens „Lebkuchen Klaus“ entwickelte und produzierte Bahlsen dort bereits seit 1996 „Neuheiten und Artikel mit Konditoreicharakter“. Eine moderne Fertigungsanlage für Kuchen, die in einem Erweiterungsbau untergebracht wurde, konnte 2005 die Produktion der Kuchen-Marke „Comtess“ und anderem Soft-Gebäck aufnehmen. In Oldenburg wurde nur der beliebte Fabrikverkauf aufrechterhalten, jedoch zog er an einen anderen Standort an der Emsstraße. Den meisten der zuletzt rund 70 Mitarbeiter:innen wurde eine Weiterbeschäftigung in Varel angeboten.

Kurze Zeit später stand fest: Auf dem ehemaligen Bahlsen-Gelände sollte ein gemeinsames und gemeinnütziges Nutzungskonzept verschiedener sozialer Einrichtungen umgesetzt werden. Impulsgebend war die private Gründungsinitiative von Oldenburger Eltern, die eine Wohn- und Arbeitsumgebung für ihre behinderten Kinder nach Abschluss der Schulzeit schaffen wollten. Sie gründeten 2005 den Verein Baumhaus e.V. und kauften 2006 Teile des Grundstückes der ehemaligen Keksfabrik. Mit anderen sozialen Einrichtungen schloss sich der Baumhaus e.V. zum Projektnetz „tosamen“ zusammen, um das gesamte Bahlsen-Areal für Projekte zur Förderung des Zusammenlebens von verschiedenen Generationen sowie behinderten und nicht behinderten Menschen erschließen zu können. Mitglieder von „tosamen“ sind:

Im Mai 2006 wurde mit dem Abbruch des stadtbildprägenden „Bahlsen-Blocks“ begonnen. Bereits im Juni 2007 konnte für das Mehrgenerationenhaus als eine der ersten Neubauten das Richtfest gefeiert werden. Inzwischen bilden Werkstatt, Wohnhaus und Wohnungen für das betreute Wohnen, ein Mehrgenerationenwohnhaus, der heilpädagogische Schulzweig der Waldorfschule, eine große Sporthalle, eine Kirche der Christengemeinschaft, ein ambulanter Pflegedienst, eine Kinderkrippe, der Sportivo e.V. und mehrere Wohnprojekte in der Nachbarschaft ein kleines Dorf in der Stadt. Alle Einrichtungen tragen mit ihren vielfältigen Aktivitäten auf dem ehemaligen Bahlsen-Gelände dazu bei, dass sich eine soziale Stadtgemeinschaft gebildet hat, die vielen Menschen Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglicht.

Text: Ria Glaue