Die Familie Insel

Kein Ort. Nirgends

– Christa Wolf

 

Die berühmte Novelle Kein Ort. Nirgends  von Christa Wolf handelt vom Gefühl des Ausgeschlossenseins derer, die am herrschenden System ihrer Zeit verzweifeln, die ihren Platz in der Welt nicht finden. Zugleich reflektiert die DDR-Autorin 1979 ihre eigene Erfahrung vom Lebensgefühl in einer Diktatur - noch unter dem Eindruck der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann wenige Jahre zuvor.

Der Titel Kein Ort. Nirgends  ist seitdem allgemein zum geflügelten Wort geworden. Wie kein anderes eignet es sich auch als Überschrift für das bittere Schicksal der jüdischen Oldenburger Familie Insel im Nationalsozialismus.

Einen sicheren Ort gab es für sie ab 1933 nicht mehr. Die vierköpfige Familie musste vor der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Ihre Flucht führte die Eheleute Henny und Siegfried Insel mit ihrer Tochter Grete 1936 von Oldenburg erst nach Hannover und 1939 weiter nach Amsterdam. Sohn Hermann war bereits 1933 nach Amsterdam gezogen. Aber auch dort waren sie wie alle anderen Jüdinnen und Juden bald nicht mehr sicher, denn die Niederlande wurden im Mai 1940 von den Deutschen besetzt. Die Eltern Henny und Siegfried wurden hier im Frühjahr 1943 von den deutschen Besatzern verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork verbracht. Von dort wurden sie mit dem Zug in das NS-Vernichtungslager Sobibór in Polen deportiert, wo sie ermordet wurden. Die erwachsenen Kinder wurden bereits im Juli 1942 über Westerbork nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort ermordet.

Der Kaufmann Siegfried Insel, geboren 1859 in Berne, und seine Frau Henny, geboren 1873 in Hameln, waren 1903 aus der Wesermarsch in die nahe gelegene Stadt Oldenburg gezogen. Ihre erste Wohnung bezogen sie mit ihrer kleinen Tochter Grete, geboren 1903 in Berne, in der Langen Straße 57. An dieser Adresse begründete Siegfried Insel zugleich ein Ladengeschäft für Herren- und Knabenbekleidung. 1911, kurz nach der Geburt des Sohnes Hermann, zogen die Insels in eine große Altbauwohnung im sogenannten „Gelben Schloss“ in der Roggemannstraße Nr. 25 um, wo sie bis zu ihrem notgedrungenen Wegzug aus Oldenburg wohnten.

In der Langen Straße 57 befindet sich ab 1912 die traditionsreiche Buchhandlung Bültmann & Gerriets, die am 1. Oktober 1871 von Heinrich Bültmann und Gerriet Gerriets als Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung mit Antiquariat und Journal-Lesezirkel gegründet wurde. Bültmann & Gerriets wird bis heute trotz einiger Besitzwechsel unter dem historischen Gründungsnamen und seit 1989 in dritter Generation von der Osnabrücker Buchhändlerfamilie Wenner geführt. Das Ladengeschäft erstreckt sich auf inzwischen vier Verkaufsetagen und bietet die größte Buchauswahl in Oldenburg an. Im Jahr 2021 feierte die Buchhandlung ihr 150-jähriges Bestehen.

Zurück zu den Insels: Nach ihrem Umzug in die Roggemannstraße 25 wechselte Siegfried Insel spätestens 1914 in die Versicherungsbranche und baute erfolgreich eine eigene Agentur auf. Von 1924 bis 1933 vertrat er die Rhein-Mosel-Versicherung als deren Hauptagent in Oldenburg. 1934 verlor er diese Vertretung. Noch bis 1935 war Siegfried Insel als Kaufmann im Handelsregister der Stadt eingetragen. Ab dann versiegen seine beruflichen Einträge im Oldenburger Adressbuch. Unter dem Druck der zunehmenden Diskriminierung und der wirtschaftlichen Bedrängnis aller Jüdinnen und Juden durch die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten entschieden sich Henny und Siegfried Insel im Spätsommer 1936 zu einem Umzug nach Hannover. Dort bezogen sie gemeinsam mit ihrer Tochter eine kleine Neubauwohnung.

Wie viele andere jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland erhofften sie sich vom Wegzug in die Anonymität einer größeren Stadt, den alltäglichen Repressionen weniger ausgesetzt zu sein. Große Teile ihres Oldenburger Hausstands konnten sie aus Platzmangel nicht mitnehmen, daher mussten sie sich von Möbelstücken und Haushaltsgegenständen trennen. Kurz vor ihrem Wegzug hatten sie dem Oldenburger Landesmuseum gezielt Gegenstände zum Erwerb angeboten. Nur weniges davon konnten sie zu stark gedrückten Preisen verkaufen.

Einer befreundetet Familie schenkte das Ehepaar Insel aus Anlass ihres Wegzugs aus Oldenburg im September 1936 eine Zinnkanne und Hochzeitsschmuck. Kurz nach Ihrem Umzug schrieben die „Insulaner“ aus Hannover eine Postkarte an die Oldenburger Freunde, in der sie sich herzlich „für alle Mühe“ bedankten. Vermutlich hatten sie ihnen bei der Vorbereitung des Umzugs geholfen.

Diese Gegenstände aus dem ehemaligen Besitz der jüdischen Oldenburger Eheleute Henny und Siegfried Insel befanden sich bisher im Bestand des Stadtmuseums Oldenburg. Erst 1997 kamen Zinnkanne und Hochzeitsschmuck als Schenkung eines Oldenburger Bürgers in die Obhut des Museums. Seine Eltern waren einst die Freunde, denen Henny und Siegfried die Gegenstände 1936 zum Abschied geschenkt hatten.

Längere Zeit schlummerten diese Sammlungsstücke im Magazin des Stadtmuseums Oldenburg, bis sie dort im Rahmen der Provenienzforschung wiederentdeckt wurden. Die sorgfältige Erforschung ihrer Herkunftsgeschichte zeigte, dass die Familie Insel ohne die belastenden Umstände der Judenverfolgung keine Veranlassung gehabt hätte, sich von diesen sehr persönlichen Gegenständen zu trennen, an denen ein Stück ihrer Familiengeschichte haftet. Vor diesem Hintergrund wird die damalige Schenkung als NS-verfolgungsbedingter Entzug gewertet. Daher suchte die Stadt Oldenburg nach den Erben von Henny und Siegfried Insel und bot ihnen eine Restitution, also eine offizielle Rückgabe dieser Sammlungsstücke an. Im September 2024 haben die Nachkommen der Familie Insel, die in Israel und den USA leben, diese Objekte offiziell von der Stadt Oldenburg zurückerhalten. 

Mehr über die besonderen Sammlungsstücke und die Erforschung ihrer Geschichte erfahren Sie auf der Internetseite zur Provenienzforschung des Stadtmuseums Oldenburg: Objekte aus dem Eigentum von Henny und Siegfried Insel ».

 

Text: Ria Glaue und Sabine Stührholdt

 

Die Provenienzforschung am Stadtmuseum Oldenburg wird großzügig gefördert durch die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste.