Blutbuche Ziegelhofstraße
Brief an einen Baum.
Eine Anwohnerin der Ziegelhofstraße inspirierte die Rotbuche in ihrer Straße zu einem Brief, in dem sich die Geschichte des Ziegelhofviertel, die ihrer Familie und ihre eigene Perspektive verbinden:
In all den Jahreszeiten bist du besonders schön.
Im Winter, ohne Blätter, schenkst Du mir durch deine vielen Arme, einen wunderschönen Blick und ich lasse kurz alles stehen, um Dich zu bewundern.
Mit dem Sonnenaufgang bildet die kugelrote Sonne und ihre Strahlen einen Kontrast mit Dir - Deine Form kommt zum Vorschein. Ich spüre, das Licht umarmt mich durch Deine Äste. Es ist eine warme Umarmung für meine Seele.
Wer noch hat Dich aus diesem kleinen Fenster im Haus durch all die Jahre beobachtet?
Du bist Teil unserer Geschichte. Mein Schwiegervater, seine Eltern und Großeltern sind nicht mehr am Leben, aber sie haben in demselben Haus gewohnt, wo wir jetzt wohnen und aus dem wir Dich sehen können. Du stehst noch da. Was hast Du uns zu erzählen? Kannst Du es mir durch den Wind, durch das Geräusch deiner Blätter verraten? Ich kann es nur erahnen.
Für jedes Wort könntest Du Geschichten erzählen. Etwas über den Krieg und auch über Angst, Einsamkeit, Hoffnung, Liebe, Dankbarkeit, Tod, Geburt, Vertreibung, Rückkehr, Stolz, Heimat, Klimawandel.
Vergessene Geschichten, die vielleicht nicht weitererzählt worden sind oder vielleicht doch? Wie die Geschichte des Lokomotivführers aus der Ziegelhofstraße. Diese Geschichte wurde von Generation zu Generation an uns weitergegeben.
Er war der Ururgroßvater unserer Kinder und hieß Hermann Lindemann. Er hatte ein Grundstück an der Ziegelhofstraße von einer Oldenburger Kaufmannstocher gekauft, genau gegenüber den Gleisen, wo er mit seiner Lokomotive unterwegs war. Dafür hatte er im Jahr 1934 eine Summe von 3.500 Reichsmark bezahlt. Auf diesem Grundstück ließ er ein Haus bauen und zog mit seiner Familie - seiner Frau und seinen drei Kinder - dorthin.
Es waren die 1930er Jahre und Oberlokomotivführer Lindemann dampfte mit seiner Lokomotive häufig auf der Bahnstrecke Oldenburg-Wilhelmshaven an der Ziegelhofstraße vorbei. Während er mit seiner Lokomotive fuhr, hatte er eine Idee.
Es wurde mir erzählt, er habe in schlechten Zeiten mit seiner Lokomotive direkt vor seinem Haus die Fahrt stark verlangsamt und zusammen mit dem Heizer Kohlen aus der Lokomotive heraus geschaufelt. Seine Familie und die Nachbarn warteten schon mit Schaufeln und Eimern vor dem Haus und füllten diese mit Kohlen, um Ihre Häuser zu heizen. Es war eine Zeit, in der die Menschen nicht viel hatten.
Im Haus existiert der Kohlenkeller heute noch und hat eine schöne Hebetür aus Metall. Nach der Renovierung konnten wir erkennen wo in der Stube der Ofen gestanden hatte, man sieht noch die schwarzen Flecken von heißen Kohlen, die aus Versehen auf den Holzdielenboden gefallen waren.
Wie alt warst du zu dieser Zeit, wahrscheinlich warst du ein junger Baum, aber schon groß genug, damit man auf Dich klettern konnte. Du hast überlebt und jetzt stehst du noch da, groß, kräftig und wunderschön. Die Zyklen wiederholen sich, von Jahr zu Jahr prägst du das Bild unserer Straße.
Dein frisches Grün zeigt mir, der Winter und die Dunkelheit sind endlich vorbei. Der Frühling kommt. Es ist Zeit raus zu gehen, es ist Zeit um sich zu erneuern und mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Mein Geist erwacht mit Dir, du riechst nach Frische.
Im Sommer bist Du imposant und voll. An heißen Tagen spendest Du Erfrischung, am liebsten würde ich mich neben Deinen Stamm und in Deinen Schatten legen und mich erholen. Deine Krone breitet sich über der Straße aus und überquert sie fast vollständig.
Wenn ich mit meinem Fahrrad an Dir vorbeifahre, blicke ich kurz nach oben und ich rufe meinen Schwiegervater in Gedanken. Ich stelle ihn mir als Kind vor, er schaukelt mit seinen kindlichen Beinen. Du warst wie ein Freund, er kletterte auf deine Äste als sein Vater wieder in den Krieg gegangen war.
Du warst eine Art Spielkamerad aber auch bist du Leben, Heimat für Menschen und Tiere, Schutz, Widerstand, Sauerstoff. Du bist Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
Unsere Wurzeln, meine und Deine sind verbunden. Unsere Kinder sind die Wurzeln, die auch wie Deine, auf der Ziegelhofstraße wachsen. Sie sind Hoffnung auf das Leben, so wie du.
Wenn ich eines Tages weg bin, bist Du hoffentlich noch da, dann wirst Du Zeuge meiner Existenz sowie ich durch meine Worte, bin Zeugin Deiner Existenz.
Wenn der Herbst vor der Tür steht, ist es für mich die Zeit der Melancholie, die Zeit der Dunkelheit und der Kälte, aber auch die Zeit der Gemütlichkeit. Es ist an der Zeit, im Inneren Schutz zu suchen. Wir sind zu Hause behütet. Du ziehst Dich aus, wenn Deine Blätter fallen und ich ziehe mich warm an.
Deine Farben sind wie Feuer. Manchmal bist Du dunkel-rot, dann rot-grün oder braun-rot. Deine Blätter tanzen nach unten und schmücken den Wind, sie singen und kreisen herum.
Wie lange werden wir Menschen Dich leben lassen? Du koexistierst mit uns, Du gibst uns allen Sauerstoff, Schönheit und Frische mitten in der Stadt. Für mich bist du Demokratie und Widerstand.
Was wollen wir Dir zurückgeben? Undankbarkeit, Gleichgültigkeit oder besser Bewunderung, Schutz und Fürsorge.
M.D. Rivera Lara, Oldenburg (Old), Januar 2025
Wenn Sie selbst Objekte, Fotos oder Geschichten rund ums Ziegelhofviertel teilen möchten oder sogar historische Fotos von der Blutbuche besitzen, kontaktieren Sie uns gerne: stadtmuseum(at)stadt-oldenburg.de