Neues Gymnasium Oldenburg

Grünkohl Alaaf!

 

Es war einmal...

Als am 15.1.1871 eine Gruppe Männer unterschiedlichen Alters „bei leichtem Frost und hellen Sonnenschein“ beschloss eine Winterwanderung Richtung Wiefelstede zu machen, ahnte sie sicherlich nicht, was sie damit lostreten würden.

Über hundertfünfzig Jahre später können wir uns in der Hochsaison zwischen November und Februar kaum noch vor Kohltourangeboten retten. Spätestens seit 2010, als sich Oldenburg selbst den Titel „Kohltourhauptstadt“ verlieh, ist es mit dem Kohlfrieden – wenn es ihn je gab – vorbei.

„Blicken wir aber lieber in die Zukunft. Während die Weltraumforscher, während der Sputnikzismus zu schönsten Hoffnungen berechtigen und man sich allerorts auf eine Mondfahrt vorbereitet, was tun wir [die Oldenburger:innen] da? Wir präparieren uns für eine oder mehrere Kohlfahrten. Daß wir als Metropole rundum von Landwirtschaft umgeben sind, daran erinnern wir uns besonders zur Kohlzeit.“ (Ausschnitt aus einer Kolumne zur Eröffnung der Kohltoursaison, in der NWZ vom 20.11.1959.)

Um wen oder was dreht sich hier eigentlich alles?

Natürlich um den Grünkohl (Brassica oleracea var.SabellicaL.)! Eine schon lange, vor allem in küstennahen Siedlungsgebieten, anzutreffende Nutzpflanze aus der Familie der Kreuzblütengewächse, die aufgrund ihrer Frosttoleranz auch im Winter als frisches Gemüse verfügbar und sehr vitamin- und nährstoffreich ist. Ausgesät wird der „Starkzehrer“ im Mai, am besten auf Geest- oder Sandboden, ernten kann man ihn ab Oktober, je nach Sorte. Dass er keinen Frost braucht, um genießbar, d.h. süß, mild und bekömmlich zu werden, ist mittlerweile bei den meisten angekommen.

Früher wuchs er, beziehungsweise unterschiedliche Variationen von ihm, in vielen Hausgärten. Aus ihnen wurde er für Mensch (Blätter) und Tier (Strunk) bei Bedarf geerntet.

Nach dem Garten- und Kohlboom der letzten Jahre könnte es gut sein, dass er nun wieder vermehrt in den Gärten Oldenburgs anzutreffen ist. Vor allem wenn das Projekt des „Oldenburger Grünkohldoktors“ (Ja, es gibt ihn wirklich! Er heißt Christoph Hahn, hat die letzten Jahre an der Universität Oldenburg zu Grünkohl geforscht und mittlerweile seinen Dr.-Titel erhalten) aufgeht und es irgendwann eine richtige Oldenburger Palme zu kaufen gibt.

Wer nach den Ursprüngen sucht, sollte sich den Helgoländer Wildkohl ins Haus holen. Der steht im Verdacht, ein (in)direkter Nachkomme des sizilianischen Wildkohls zu sein. Dem „Urgrünkohl“, zumindest nach aktuellem Stand der Grünkohlforschung.

Dieses Gewächs, im Oldenburger Land früher bekannt als Brauner Kohl, ist Grundlage des Gerichts, das die Oldenburger:innen zu ihrem  „Nationalgericht“ auserkoren haben. Erst ab den 1930er Jahren setzte sich die Bezeichnung Grünkohl durch. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Einer könnte der vermehrte Anbau von grünblättrigen Sorten gewesen sein.

Fundstück aus unserem Bildarchiv – Was hat es mit dem Foto des Grünkohlackers auf sich?

Ehrlich gesagt, wissen wir das auch nicht.

Das Foto stammt aus dem 2018 erworbenen Konvolut von Foto-Negativen des NWZ-Fotografen Günter Nordhausen (1912-1983). Unser einziger Anhaltspunkt zum Bildinhalt ist die Bildunterschrift. Zu welchem Zweck und wie lange auf dem damaligen Baugrundstück des Neuen Gymnasiums Oldenburg (NGO) Grünkohl angebaut wurde, wissen wir nicht. Wenn Sie darüber Informationen haben, freuen wir uns über ihre Mitteilungen!

Was wir wissen, ist, dass die Fläche, auf der heute das NGO steht, bis zu seinem Tod dem Ökonomen und Ratsherrn Franz Harm Adolph Harms (1848 -1916) gehörte. Er verfügte, dass das große, bis dahin unbebaute Grundstück nach dem Tod seiner Frau (sie starb 1920) der Stadt Oldenburg zukommen sollte. Jedoch mit der Auflage, es nur für gemeinnützige Einrichtungen zu verwenden. Bis es soweit war, wurde die Fläche an Kleingärtner:innen verpachtet. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs bis ca. 1955 mussten viele Oldenburger:innen sich selbst versorgen, da zu dieser Zeit Gemüse und Obst entweder teuer oder Mangelware war. 1958 war es dann soweit: Der Grundstein für das NGO wurde gelegt.

Die Alexanderstraße, an der das Grundstück des NGO liegt, galt lange Zeit als „Grüne Meile“, da sich vor dem Heiligengeisttor eine große Dichte an Gemüse- und Hopfengärten der Oldenburger Bürger:innen befand. Ihren jetzigen Namen erhielt sie 1856. Davor wurde sie ganz pragmatisch „Postweg nach Metjendorf“ (1799) oder „Weg nach Alexandershaus“ (1745, 1862) – der ersten Bebauung der Straße – benannt. Ein Überbleibsel dieses Namens ist heute noch in der Endhaltestelle der Buslinie 329 erhalten. Sie ist eine der Oldenburger Straßen, die die Stadt mit dem Land verband und Oldenburg mit der Natur verknüpfte – eine Beziehung, die in der jährlichen Kohlsaison kontinuierlich aufs Neue wiederbelebt und gefeiert wird.

Die „Erfindung“ der Kohlfahrt und die Alexanderstraße

Die erste „Kohlfahrt“ ging diese Straße entlang! Der eingangs erwähnte Männertrupp bestand aus Turnern (anfangs gab es noch keine Turnerinnen) des zu dieser Zeit erst 12 Jahre alten Oldenburger Turnerbunds (OTB). Sie beschritten an diesem Tag ihre alljährliche Winterturnfahrt, die sie an diesem Tag über Metjendorf und Wiefelstede nach Rastede führte. Für die Strecke Oldenburg-Wiefelstede brauchten sie drei Stunden. Sie waren es gewohnt, weit größere Distanzen zu Fuß zurückzulegen. Das bewiesen sie regelmäßig bei ihren ausgedehnten Sommerwanderungen. Was sie für die Wanderung alles eingepackt hatten, wissen wir nicht, aber sicher ist, dass sie nur kleines Gepäck (Rucksack) mit sich führten. Ein Bollerwagen hätte sie ziemlich sicher behindert, da die Alexanderstraße damals noch nicht gepflastert war und sich in einen Zustand befand, der regelmäßig beklagt wurde. Außerdem gab es diese Tradition noch nicht.

In der Chronik des OTB wird eher nebenbei erwähnt, dass mittags „Kohl mit Schwein, Würsten, etc.“ auf dem Tisch stand („Sehr gut und billig.“). Das war zu dieser Jahreszeit nicht unüblich, denn „Eßparthien“ aufs Land waren im 19. Jahrhundert beliebt. Wer es sich leisten konnte und ein entsprechendes Fortbewegungsmittel hatte, machte sich sonntags auf zu den Gasthöfen der Umgebung.

Einigen der besser gestellten Turner dürfte diese Tradition der Kohlessen vertraut gewesen sein. Bekannt ist auch, dass es bei der ersten Winterturnfahrt recht gesellig zuging, wozu die in einer Quelle verbürgte halbe Flasche Rotwein pro Person wohl einiges beigetragen hat. Wahrscheinlich war es gerade diese Geselligkeit, die alle in guter Erinnerung behielten, weswegen in den Folgejahren weitere Turnfahrten mit Kohlessen folgten, die bald als Kohlfahrten bekannt wurden. Der erste schriftliche Beleg des neuen Namens stammt aus dem Jahr 1880. Außerdem ist dokumentiert, dass in Folge immer mehr Vereine Kohlfahrten angeboten. Um 1890 gab es darüber mehrere Berichte in der damaligen Tageszeitung Nachrichten für Stadt und Land.

 

Warum sich die Kohltouren zu dieser Zeit so schnell zu einer neuen Tradition entwickelten, können wir nur vermuten. Eine Erklärung könnte sein, dass sie in Oldenburg zu einer Zeit auftauchten, in der demokratische Ideen, aber auch eigene, regionale Bezüge und kulturelle Ausprägungen immer wichtiger wurden. Die Gründung des deutschen Reiches (1871) rief in Oldenburg, wie in vielen anderen Regionen Deutschlands, Angst vor Vereinnahmung und Vereinheitlichung hervor. Sie richteten sich an alle (Schichten) und stärkten, wie übrigens heute auch, nicht nur den Magen, sondern auch die lokale Identität. Die Kohltouren, wie wir sie heute kennen, sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. In den sogenannten Wirtschaftswunderjahren wurden sie immer häufiger angeboten und entwickelten sich mit der Zeit zu Massenveranstaltungen mit Volksfestcharakter. Somit lag auch der Vergleich mit (in Norddeutschland eher unüblichen) karnevalistischen Aktivitäten, nicht mehr weit. Die Kohltoursaison hat sich mit ihren Kohlkönniginnen und Kohlkönnigen, samt Hofstaat, Insignien und Spielchen, Schnapsgläschen und Warnwesten als gesellschaftlicher und geselliger Höhepunkt des Oldenburger Jahres etabliert.

Übrigens, es wurde schon einmal ein 150-jähriges Kohlfahrtenjubiläum zelebriert. In der Sonderbeilage der NWZ vom 27.11.1959 (genau das Jahr, in dem Abb. 2 angeblich geschossen wurde!) hieß es: „Der schöne heimatliche Brauch der Oldenburger Kohlfahrten feiert in dieser eben anbrechenden Saison sein hundertfünfzig jähriges Jubiläum. Habe ich ausgerechnet. Solange keiner das Gegenteil beweisen kann, bleibt es somit dabei, ...“ (Hinnerk Küsselkopp)

Text: Judith Behre